Schielen („Strabismus“) nennt man meist beständige oder immer wieder auftretende Fehlstellungen der Augen. Rund 4 – 5 Millionen Mitbürger leiden am Schielen. Sie leiden nicht nur unter der oft entstellenden, äußerlich sichtbaren Abweichung: noch belastender wirken die mit dem Schielen verbundenen Sehstörungen.
Schielen ist eben nicht nur ein Schönheitsfehler, sondern oft eine schwere Sehbehinderung. Je früher das Schielen im Leben des Kindes auftritt, je später es vom Augenarzt behandelt werden kann, desto schwerer wird die Sehbehinderung. Mit Beginn des Schulalters sinken die Erfolgschancen der Behandlung erheblich. Schielende Babys und Kleinkinder bedürfen einer möglichst frühzeitigen Behandlung.
Wie wirkt sich das Schielen auf das Sehen aus?
Damit wir den Raum um uns richtig wahrnehmen können, müssen unsere beiden Augen in die selbe Richtung schauen. In jedem Auge entsteht dabei jeweils ein Bild, das sich nur geringfügig von dem anderen unterscheidet. Diese beiden Bilder werden im Gehirn zu einem einzigen dreidimensionalen Seheindruck verschmolzen (Abb.1). Beim Schielen wird der Unterschied zwischen den beiden Bildern durch die Fehlstellung zu groß. Sie können im Gehirn nicht mehr richtig zur Deckung kommen. So entstehen störende Doppelbilder. Das kindliche Gehirn kann sich gegen Doppelbilder wehren, indem es das vom schielenden Auge übermittelte Bild einfach unterdrückt. Der Vorgang hat meist verhängnisvolle Folgen: das nichtbenutzte Auge wird nämlich nach einiger Zeit sehschwach („amblyop“).
Amblyopie nennt man die Sehschwäche eines organisch sonst gesunden Auges. Ohne Behandlung entwickeln nahezu 90% aller Schielkinder eine einseitige Amblyopie. Wird diese Schielschwachsichtigkeit nicht rechtzeitig entdeckt und behandelt, bleibt sie lebenslang bestehen. Das Kind kann dann nie mehr lernen, richtig beidäugig oder gar dreidimensional zu sehen. Es ist mehr durch Unfälle gefährdet und außerdem bei der Berufswahl beeinträchtigt. Eine rechtzeitige Behandlung kann die Amblyopie so gut wie immer verhindern oder beseitiges und meist auch gutes räumliches Sehen herstellen.
Abbildung 1:
A – Ein von beiden Augen gemeinsam angesehener Würfel wird in beiden Augen umgekehrt und etwas unterschiedlich abgebildet. Im Gehirn werden die beiden Bilder zu einer einzigen Wahrnehmung eines aufrechten Würfels verschmolzen.
B – Bei einem Einwärtsschielen des rechten Auges sieht das rechte Auge links am Würfel vorbei. Durch die Bildverarbeitung im Gehirn erscheint ein Doppelbild. Dabei wird der Würfel nur so wahrgenommen, wie es dem Bild des linken Auges entspricht. Kinder unterdrücken die Doppelbildwahrnehmung.
Wie Babys sehen und Sehen lernen
Babys können schon kurz nach der Geburt mit ihren Augen ihre Umwelt wahrnehmen – allerdings nur undeutlich. Die Sehschärfe muß sich erst noch durch ständiges Üben entwickeln. Dazu steht lediglich ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung. Mit Schulbeginn ist das „Lernprogramm“ der Augen praktisch abgeschlossen. Es gilt: „Was Hänschen nicht sieht, sieht Hans nimmermehr“.
In den ersten Lebenswochen kann ein Kind die Bewegung der beiden Augen noch nicht richtig koordinieren. Flüchtige Fehlstellungen sind in dieser Zeit kein Grund zur Beunruhigung. Sie können auch in den nächsten Monaten gelegentlich auftreten: Auch das Fixieren will gelernt sein.
Wenn jedoch ein Auge ständig von der Richtung des anderen abweicht, ist keine Zeit zu verlieren. Der Augenarzt kann das Schielen schon im Säuglingsalter diagnostizieren und wird die Behandlung zum richtigen Zeitpunkt einleiten.
Die verschiedenen Formen des Schielens
Beim Schielen weicht ein Auge von der Blickrichtung des anderen ab. Die Abweichung kann dabei so gering sein, daß sie selbst aufmerksamen Eltern entgeht. Oft schielt immer das selbe Auge, weil es die schlechtere Sehschärfe oder die geringere Beweglichkeit besitzt. Der Augenarzt spricht dann von einseitigem („monolateralem“) Schielen. Sind beide Augen gleichwertig, beobachtet man ein wechselseitiges („alternierendes“) Schielen.
Das schielende Auge kann in verschiedenen Richtungen vom nicht-schielenden Auge abweichen (Abb.2): nach innen (Einwärtsschielen), nach aussen (Auswärtsschielen), nach oben oder unten (Höhenschielen) oder durch Verdrehung um die Sehachse (Verrollungsschielen). Nicht selten treten Abweichungen unterschiedlicher Richtung bei einem Kind gleichzeitig auf.
Das latente Schielen läßt sich nur nachweisen, wenn das beidäugige Sehen durch Abdecken eines Auges oder auf ähnliche Weise aufgehoben wird. Latentes Schielen kann im Schulalter Kopfschmerzen und Leseunlust auslösen.
Ist eine Fehlstellung beliebiger Richtung wiederholt oder ständig zu beobachten, spricht man vom manifesten Schielen. Zum manifesten Schielen gehört auch das Mikroschielen – in der Regel einseitig nach innen gerichtet und so geringfügig, daß die Eltern es nicht erkennen oder gar niedlich finden.
Schielen ist nie harmlos oder nur niedlich, es „wächst sich auch nicht aus“, sondern bewirkt eine einseitige Sehschwäche und schwere Störungen des beidäugigen und vor allem des dreidimensionalen Sehens, wenn die notwendige augenärztliche Behandlung verzögert wird.
Wie entsteht Schielen?
Schielen hat viele Ursachen. Die Tatsache, daß Schielen in manchen Familien gehäuft auftritt, läßt darauf schließen, daß zumindest die Veranlagung erblich sein kann. Vor allem wenn ein Elternteil schielt oder gegen Schielen behandelt wurde, sollte das Kind schon im ersten Lebensjahr dem Augenarzt vorgestellt werden. Häufig bleibt die Fehlstellung allerdings in der Familie ein Einzelfall, von dem Jungen wie Mädchen gleichermaßen betroffen sein können. Auch Risikofaktoren, die während der Schwangerschaft oder Geburt auftreten, können Schielen bewirken. In vielen Fällen sind die Ursachen am Auge selbst zu suchen, z.B. angeborene seitenungleiche Brechungsfehler, einseitige Linsentrübungen, Tumore im Auge oder Verletzungen. Auch bei angeborenen Ursachen muß die Schielstellung nicht gleich nach der Geburt sichtbar sein. Bei angeborenen Brechungsfehlern tritt Schielen ein, wenn das Kind genauer zu fixieren beginnt. Dabei benutzt das Kind oft ausschließlich das funktionell bessere Auge, wodurch das stärker fehlsichtige Auge eine Sehschwäche (Amblyopie) entwickelt, wenn es nicht durch zusätzliche augenärztliche Maßnahmen „trainiert“ wird. Manchmal tritt eine „erworbene“ Fehlstellung auch plötzlich auf, z.B. bei Kinderkrankheiten, bei hohem Fieber, nach Unfällen – etwa Gehirnerschütterung, Linsentrübung oder Netzhautablösung – oder aber in schweren seelischen Krisen.
Gibt es beim Schielen Früh- oder Warnzeichen?
Kinder mit auffälligem Schielen haben die besten Chancen, weil sie von ihren Eltern schon aufgrund des „Schönheitsfehlers“ frühzeitig dem Augenarzt vorgestellt werden. Leider sind die kaum oder nicht sichtbaren Abweichungen in der Überzahl. Sie fallen oft erst dann auf, wenn ein Auge bereits amblyop ist – etwa beim Einschulungssehtest, wenn es für eine erfolgreiche Behandlung meist zu spät ist. Allein aus diesem Grund haben 4% der Mitbürger eine erhebliche einseitige Sehschwäche. Es ist daher sehr wichtig, alle Merkmale zu kennen und zu beachten, die Hinweise auf ein drohendes oder schon eingetretenes Schielen geben können:
Lichtempfindlichkeit, Augentränen, Zukneifen eines Auges, Verstimmung oder Reizbarkeit, chronische Lidrandentzündung, schiefe Kopfhaltung und ungeschickte Bewegungen sind Alarmzeichen. Jedes Zeichen für sich ist ein triftiger Grund, sofort den Augenarzt zu Rate zu ziehen.
Bei nicht zu kleinen Abweichungen können Sie bei Ihrem Baby das Schielen so erkennen: Stellen Sie sich mit dem Rücken zum Fenster oder unter eine Deckenleuchte. Halten Sie Ihr Baby so vor sich, daß seine Augen zum Licht gerichtet sind. Sie sehen auf der Hornhaut beider Augen kleine Spiegelbilder des Fensters oder der Deckenleuchte. Die Spiegelbilder müssen in beiden Augen seitengleich zur Pupille liegen. Ist ein Spiegelbild verschoben, teilen Sie Ihrem Augenarzt unverzüglich Ihre Beobachtung mit (Abb.3).
Diese Methode ist jedoch in vielen Fällen unzuverlässig und ersetzt keinesfalls den Besuch beim Augenarzt!
Abbildung 3:
Oben: das Spiegelbildchen eines Fensters liegt bei richtiger Augenstellung etwa an der selben Stelle auf der Pupille.
Unten: bei Einwärtsschielen des linken Auges ist das Spiegelbildchen auf diesem Auge zur Seite hin versetzt.
Woran merkt man, daß ein Auge amblyop wird?
Eine einseitige Sehschwäche ohne Schielen kann ein Laie bei kleinen Kindern leider nicht erkennen. Auch die Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U8, auf die alle Kinder gesetzlichen Anspruch haben, konnten bestehende Fehler leider nicht in allen Fällen aufdecken. Dies liegt einmal daran, daß längst nicht alle Eltern dieses Angebot wahrnehmen: zum anderen findet keine dieser Untersuchungen in der Augenarztpraxis statt, wo die besten Voraussetzungen bestehen, die Amblyopie schon bei Säuglingen und Kleinkindern zu erkennen. Die um den dritten bzw. vierten Geburtstag vorgesehenen Vorsorgemaßnahmen U7 bzw. U8 mit Augenuntersuchung kommen auch für sehr früh aufgetretene Amblyopien reichlich spät. Es ist daher allen Eltern dringend zu empfehlen, sämtliche angebotenen Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen und ihr Kind zusätzlich Ende des zweiten Lebensjahres ihrem Augenarzt vorzustellen.
Wie wird Schielen behandelt?
Schielen und Brille
Zunächst ermittelt der Augenarzt die Ursache des Schielens. Einwärtsschielen, das erst im zweiten Lebensjahr oder später auftritt, wird bei mehr als der Hälfte der Kinder durch nichtkorrigierte Fehlsichtigkeit verursacht. Dabei handelt es sich in der Regel um eine stärker ausgeprägte Übersichtigkeit. Bei sehr vielen dieser Kinder wird das Schielen von der richtigen Brille beseitigt, bei anderen verringert es sich zumindest. Bisweilen muß man versuchen, das schielende Kind schon im zweiten Lebenshalbjahr mit einer Brille zu behandeln.
Amblyopiebehandlung
Zur Verhinderung oder auch Beseitigung der Amblyopie dient die Okklusionsbehandlung, bei der Klebepflaster nach Anweisung des Augenarztes in einem bestimmten Wechselrhythmus auf das nicht-schielende bzw. schielende Auge geklebt werden. Der Pflasterverschluß des nicht-schielenden Auges soll das Trainieren des schielenden Auges bewirken. Der Pflasterwechsel verhindert eine okklusionsbedingte Sehschwäche des nichtschielenden Auges. Wenn ein Kind die Hautpflasterbehandlung nicht verträgt, wird der Augenarzt Augentropfen oder Augensalben verordnen, die nach festgelegtem Zeitplan in das nicht-schielende Auge gegeben werden. Dadurch wird die Pupille des besseren Auges erweitert; die inneren Augenmuskeln werden vorübergehend entspannt, damit das Kind überwiegend das schielende Auge benutzt und dieses so „trainiert“.
Die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg der Amblyopiebehandlung ist das sorgsame Einhalten der vom Augenarzt in jedem einzelnen Fall für das schielende und das nicht-schielende Auge exakt ermittelten Behandlungs- bzw. Trainingsphasen.
Führen bei älteren Vorschulkindern und bei jüngeren Schulkindern mit Amblyopie Brille, Okklusion und Augentropfen bzw. -salbe nicht zu einer Besserung der Sehschärfe, kann bisweilen eine vom Augenarzt verordnete Schulungsbehandlung weiterhelfen. Die Amblyopievorsorge und -behandlung muß meist über Jahre bis ins Wachstumsalter hinein zusätzlich zur Brille und auch nach erfolgreicher Operation fortgesetzt werden. Bei Schulkindern kann meist der Verschluß eines Brillenglases das Hautpflaster ersetzen.
Die Schieloperation
Bei der Hälfte der Schielkinder muß die Fehlstellung durch Operationen an den äußeren Augenmuskeln beseitigt werden. Manchmal ist die operative Stellungskorrektur Voraussetzung für alle weiteren Maßnahmen. In der Regel wird die Operation erst dann durchgeführt, wenn das Kind die Brille verläßlich trägt, mit beiden Augen annähernd gleich gut sieht und sich ausreichend untersuchen läßt. Die Operation beseitigt nicht die Sehschwäche und bewirkt auch nicht immer eine unmittelbare Verbesserung des räumlichen Sehens. Beides bedarf in der Regel weiterer augenärztlicher Behandlung. Die Operation macht auch die Brille nicht überflüssig, weil Brechungsfehler nur durch die Brille ausgeglichen werden können. Schieloperationen sind ausgesprochen risikoarm und haben gute Erfolgsaussichten. Sie werden vom Augenarzt bei Kindern in Allgemeinnarkose ausgeführt, d.h. nach der Beruhigunsspritze und der Narkoseeinleitung spürt das Kind von dem Eingriff nichts mehr. Das operierte Auge reagiert natürlich, jedoch in erträglichem Maße nach dem Aufwachen für etwa 48 Stunden – vor allem bei Augenbewegungen. Bei der Operation wird das Auge weder herausgenommen noch aufgeschnnitten. Der Augenarzt öffnet lediglich die leicht heilende Bindehaut, um die Augenmuskeln zu regulieren. Von der Art der Fehlstellung und vom Ergebnis der Vorbehandlung hängt es ab, ob ein einmaliger Eingriff genügt.
Wie können Eltern und Augenarzt zusammenarbeiten?
Mit Ausnahme der Operation ist der Augenarzt bei allen anderen Therapiemaßnahmen nur erfolgreich, wenn die Eltern zuverlässig mitwirken. Der Augenarzt muß sich darauf verlassen können, daß die verordnete Brille ausnahmslos und ununterbrochen vom Kind getragen wird, daß bei der Okklusionsbehandlung Haut- oder Brillenpflaster nicht länger als vorgeschrieben auf dem Auge bleiben, jedoch ebenfalls nicht „nur mal zwischendurch“ oder vorzeitig abgenommen werden, daß Augentropfen und -salbe genau nach Plan gegeben werden und daß kein Termin – sei es zur Untersuchung oder zur Schulung – ausgelassen wird.
Die Behandlung einer Amblyopie kann sich bis zum 12. Lebensjahr und manchmal darüberhinaus erstrecken, weil Rückfälle noch bis ins Wachstumsalter hinein möglich sind.
Ihr Augenarzt weiß, daß Sie und Ihr Kind viel Geduld aufbringen müssen. Er wird Sie in jeder Weise unterstützen: medizinisch, psychologisch und durch eingehende Informationsgespräche.
Jedes Schielen ist im Kindesalter gefährlich. Auch „unsichtbares“ Schielen kann zur Sehschwäche führen.
Darum lassen Sie Ihr Kind beim geringsten Verdacht augenärztlich untersuchen, vorsorglich spätestens im zweiten Lebensjahr.
©1985 BVA + DOG